Wieviele Jahre hängen wir hinterher?

Von | 4. April 2017

Eigentlich war für diesen Monat ein Artikel über Data Elements eingeplant, den Abstraktionslayer in DTM, mit dem man einigermassen „Marketer-kompatibel“ die Herkunft von Daten verstecken kann.

Nun hat aber das product management rund um Corey Spencer in den letzten Monaten nicht geschlafen. Im Gegenteil: Beim Summit wurde offiziell „Launch“ angekündigt, der von Grund auf neu und schwer auf APIs hin konzipierte Nachfolger von DTM.

Damit war mein Artikel zwar nicht obsolet, aber doch weniger brauchbar geworden, und ich habe daher beschlossen, vom Summit selber zu berichten, bzw. darüber zu sinnieren, wie gross eigentlich in unserer Branche der Unterschied zwischen den USA und Europa wirklich ist.

„5 Jahre“

Als ich im Januar 2008 zu Omniture kam, war die gängige Faustregel, dass Europa etwa 3 – 5 Jahre in der Entwicklung hinter den USA herhänge.

Ich habe das damals nicht wirklich hinterfragt, erstens wegen noch nicht trocken hinter den Ohren, zweitens weil die Kollegen vom Consulting in Orem, UT ganz beachtlich gut waren. Da hat man dann schnell einen gewissen Respekt.

Damals haben wir uns oft überlegt, warum das wohl so sein mag. Warum sind wir in Europa überhaupt hintendran?

Die Thesen hatten viel mit der Grösse des Marktes zu tun, der Reife (also Zeit seit den Anfängen der Webanalyse), und dem Umstand, dass ein Team mit 60 Leuten (US) interessantere Dinge abdecken kann als eins mit 5 (EMEA). Die 60 Leute können sich z.B. auf bestimmte Industrien spezialisieren, oder einfach ausgeklügeltere Sachen machen als 5. Ein Michael Phelps ist nunmal schneller als ein Fünfkämpfer. Jedenfalls im Wasser.

Dann hatten wir unsere Kunden unter Verdacht. „In den USA ist halt krasser Kapitalismus, da muss man ja Webanalyse machen!“ oder „Der Autoindustrie in Deutschland geht’s einfach zu gut.“

Uns selbst hatten wir selbstverständlich ebenfalls Vorwürfe gemacht. Wir hätten ja bei jedem neuen Gig unsere Kunden auf der Entwicklungsleiter aufhelfen müssen, oder?!

Schnitt

Basel, Schweiz, Sonnenschein, Anfang 2017

Ich bin seit fast drei Jahren in Basel und habe sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland an vielen Projekten mindestens mitgemacht.

Mein Fazit nach diesen 3 Jahren und noch mit der Brille des im UK teilsozialisierten Analyticsmenschen: „seriously?“

Im Februar 2017 revidiere ich den Abstand für mich von „3 – 5 Jahre“ auf „5 – 8 Jahre“, wenn nicht mehr.

Es scheint in Deutschland und der Schweiz wirklich schwierig zu sein, Webanalyse oder Targeting, oder vielleicht sogar digital marketing im weiteren Sinne so zu positionieren, dass über nutzlose Reports voller Page Views, Visits und Visitors heraus hinten wirklich etwas dabei herauskommt!

Die wirklich interessanten und aus dem Raster herausfallenden Sessions bei der eMetrics in Berlin machen das Gefühl für mich nur schlimmer. Als Jim Sterne über KI & Maschinenlernen spricht und verkündet, die zwei würden unseren Beruf weiter und weiter verdrängen, lächeln viele Anwesende leicht arrogant. Ich sitze hinten und denke im Stillen „Also das was die meisten Kunden von mir verlangen, dass können KI & ML sicher jetzt schon!“

Die USA haben sich weiterentwickelt, insbesondere die Techniken im, Erwartungen an’s und das Verständnis vom Bereich Webanalyse. In DACH hat sich derweil nichts getan.

Vielleicht bin ich mit 8 Jahren noch optimistisch.

Schnitt

Summit 2017, Las Vegas, NV

Ich stehe vor knapp 80 Leuten und rede über automatisiertes Testen, mein Lieblingsthema. Da die Session ein Lab ist, machen die Leute mit, bzw. sie erwarten von mir, dass ich sie anleite.

Meine Hoffnung ist, dass die eine oder der andere am Ende mit einer testdescription.json Datei nach Hause fährt und dort sein Entwicklerteam anhält, diese zu nutzen.

Nennt mich naiv.

Ich mache die Session zweimal, und am Ende hat soweit ich weiss niemand mehr als einen, trivialen Test hinbekommen.

Was mich dabei echt überrascht hat: Der eine Test, von dem ich erwartet hatte, dass er in den USA ankommt, fällt platt auf die Nase — der nach Data Layer Elementen.

Beim zweiten Lab habe ich dann explizit gefragt, wieviele Teilnehmer auf ihrer Site einen Data Layer hätten, und das waren weniger als 5 von 80. Da war ich echt baff!

Von wegen 8 Jahre voraus!

Frieden

Nach diesem überraschendem Erwachen bin ich jetzt wieder viel friedlicher.

Wahrscheinlich hat die ganze Geschichte zwei Aspekte:

  1. Die USA sind gross, sehr gross. In so einem grossen Land ist es statistisch gesehen sehr wahrscheinlich, dass Leute schnell viel Erfahrung sammeln können, und dass sie dann auch einen Arbeitgeber finden, der bereit ist, Neues auszuprobieren.
  2. In den USA ist man tendenziell toleranter, was die Funktion, die Präzision, und den Aufwand zur Nutzung einer Lösung angeht. Was dort ein cooles Tool mit Marktvorteil für early adopters ist, wird hier nicht mit der Klobürste angefasst.

In beiden Fällen sind wir, die Zunft der Analysten und Berater, gefragt.

Erstens sollten wir nie müde werden, neue Dinge auszuprobieren und ihren Einsatz zu fordern. Zweitens sollten wir für die esxistierenden Tools so gut planen, implementieren und anleiten, dass auch ein Entscheider aus der Schweiz oder aus Deutschland das System als ausgereift sieht.

Und es gibt sicher noch mehr darüber zu sagen. Ihr seid dran! Wieviele Jahre sind es wirklich? Und warum?

3 Gedanken zu „Wieviele Jahre hängen wir hinterher?

  1. Bijan

    Moin Jan,
    danke für diesen Artikel! Ich glaube Du bist zu optimistisch; leider.

    Ich möchte Deinen Artikel gar nicht durch meinen Anmerkungen dazu erweitern, ich hätte Schwierigkeiten mich so kurz zu fassen, denn ich denke das Problem in Europa ist ein sehr weit verbreitetes (Lehren, Lernen, Motivation, Weitblick, KnowHow, Verständnis und Wille bei Führungskräften/Entscheidern um nur einige zu nennen), außerdem nicht zuletzt die unterschiedliche Kultur besonders in Bezug auf Teamwork und Egoismus.

    Vielen hier fehlen einfach die Eier Entscheidungen zu treffen, sie könnten sich ja später als falsch erweisen und das könnte dann auf den Entscheider fallen und blablabla – einfach mal machen gehört nicht zum Repertoire der europäischen Unternehmensführungen ( ausser bei VW… 😉 ), aber dann kriegen sie wiederum die Kurve nicht und lernen nicht aus den Fehlern und sind viel zu unbeweglich schnell zu reagieren). Alles muß überreguliert werden…

    Wie Du weißt bin ich noch immer massiv hinterher ein TMS implementieren zu dürfen, mittlerweile sind es bald 6 Jahre 🙁 Makes me speechless…

    Die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Antworten
  2. Pingback: Data Layer - Warum CEDDL? - Webanalyse auf Deutsch

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.